RE-ORIENTIERUNG,Internationale Tagung, Ludwig-Maximilians-Universität München und am Haus der Kunst, München

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2015-MUNICH CONFERENCE

Flyer_Re-Orientierung

 

RE-ORIENTIERUNG. KONTEXTE ZEITGENÖSSISCHER KUNST IN DER TÜRKEI

Tagung am 20. und 21.11.2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Haus der Kunst, München

PROGRAMM mit ZEITPLAN  PROGRAMM mit ZEITPLAN (Stand: 23.8.2015)  Freitag, 20. November 2015 (Center for Advanced Studies der LMU München)

10.00 Uhr        Burcu Dogramaci/Marta Smolińska Begrüßung & Einführung

10.30 Uhr        Wendy Shaw (Berlin) Sexing Up the Ottoman in the Contemporary Art of Turkey

11.15 Uhr        Marta Smolińska (Transmedialität und Appropriation als Strategien der Re-Orientierung

12.00 Uhr        Buket Altınoba (Stuttgart) Seza Paker und Bubi – Kunst im Spannungsverhältnis zwischen orientalistischer Erwartungshaltung, emanzipatorischer Strategie und Zensur

 12.45 Uhr        Mittagspause

14.15 Uhr        Anja Zimmermann (Oldenburg) Feminismen unterwegs? Körper, Identität, Politik in den Arbeiten Şükran Morals, Gülsün Karamustafas und anderer türkischer GegenwartskünstlerInnen

15.00 Uhr        Cüneyt Çakırlar (Nottingham) Unsettling the Patriot: Issues of Scale, Regionality and Queer Aesthetics in the Contemporary Art of Turkey

15.45 Uhr        Kaffeepause

16.30 Uhr        Beral Madra (Istanbul) In der Zeit der Multi-Konflikte: Kunst in der Türkei seit 2000

17.15 Uhr        Gürsoy Dogtas (München) Halil Altınderes subversiver Humor über die nationalen Repräsentationssysteme in der Türkei

18.00 Uhr        Empfang

19.00 Uhr        Esra Ersen (Istanbul/ Präsentation ihrer Arbeit für die Istanbul Biennale 2015     

Samstag, 21. November 2015 (Haus der Kunst, München)

 10.00 Uhr        Haus der Kunst, München & Burcu Dogramaci/Marta  Begrüßung

10.15 Uhr        Lora Sarıaslan ( Strategic Positionings: Artistic Identities between Istanbul and Amsterdam

11.00 Uhr        Burcu Dogramaci (München) Import – Export. Vom Gehen, Bleiben und Zurückkehren

11.45 Uhr        Sophia Pompéry (  Die leise Form der Dinge

12.30 Uhr        Mittagspause

14.00 Uhr        René Block (Berlin) Nicht einfach, die Welt in 90 Tagen zu retten. Die türkische Kunsthalle TANAS in Berlin 2008-2013

14.45 Uhr        Başak Şenova ( Reading Through Projects

15.30 Uhr        Kaffeepause

16.00 Uhr        Christoph Neumann (München) Gestaltung der Erinnerung oder Gestaltung des Tabus: Die Vernichtung der Armenier 1915/16 und die Kunst in der Türkei

16.45 Uhr        Fabienne Liptay ( Kino der Distanzen: Nuri Bilge Ceylan

17.15 Uhr        Abschlussdiskussion

 

In der Zeit der Multikonflikte. Zeitgenössische Kunst in der Türkei

Beral Madra

Anfang 1990er Jahre war ich als Kuratorin mit dieser Frage konfrontiert: Wie können die Künstler/innen, die in einem islamischen Land leben, diese herausfordernden und kühnen Werke schaffen?  Nachdem viele Künstler/innen in EU-Ländern ihre Werke in kompetenten Gruppenausstellungen gezeigt und nachdem zahlreiche Kunstfachleute die Istanbul-Biennale besucht hatten, war diese Frage beinahe verschwunden. Jetzt aber müssen wir ungefähr die gleiche Frage beantworten: Wie entwickelt sich die zeitgenössische Kunst in der Türkei im Angesicht des neuen Fundamentalismus und dem Niedergang der Demokratie, der fortlaufenden politisch-kulturellen Krise im Nahen Osten und unter den Umständen der neo-kapitalistischen Forderungen?

Offensichtlich ist Istanbul seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Hauptproduktionszentrum für die künstlerische Moderne und postmoderne Kunst in der islamischen Welt östlich von Vienna. Nach mehreren Perioden des Auf- und Abschwungs ist diese Stadt heute eine Ecumenopolis (1), eine Großstadt ohne Grenzen zwischen zwei Kontinenten, zwischen London und Hongkong mit 18 Millionen (2015) Einwohnern und mit 39 Gemeinden, die unter der Groß-Munizipilität Istanbul verwaltet sind. Die Distanz zwischen den Istanbuler Gemeinden in Ost und West, Nord und Süd liegt zwischen 20 bis 100 Kilometern.

In der Vorstellung des an Konsum und Tourismus orientierten Weltpublikums hat Istanbul viele Gesichter und ist voller Gegensätze: byzantinisch und orthodox, islamisch traditionell oder orientalisch, neoklassisch, modern und postmodern, sozialistisch oder neokapitalistisch, voller Arabesken, Kitsch und mittelöstlichem Luxus, chaotisch und zugleich harmonisch, gastfreundlich und manchmal erschreckend, gebildet oder auch unkultiviert…

Ökonomische Hochkonjunktur, Tourismus und eine populärkulturelle Explosion seit Beginn der 2000er Jahre haben die Phantasie erzeugt, daß Istanbul ein hot-spot für zeitgenössische Kunst und Kultur ist.  Die Kultur in der neokapitalistischen ökonomisch-sozialen Konjunktur scheint ein Mittel für Faszination und Prestige zu sein, und das ist besonders in Istanbul sichtbar.

Meine Ausführungen sollen aufzeigen, inwieweit diese Phantasie glaubwürdig ist: welche Bedeutung haben die zeitgenössische Kunstproduktion und Kulturveranstaltungen für eine neoliberale, politische und ökonomische Obsession wie auch für die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Krise?

Hier muß man kurz den Hintergrund beschreiben:

Das Auftauchen der westlichen Kunst in der Türkei begleitet eine Entwicklung seit 1882, mit der Gründung der Sanayi-i Nefise (Akademie der Schönen Künste) als ein Prozeß der Verwestlichung und der Modernisierung. Am Anfang wurde die Kunst – insbesondere Landschaftsbilder – vom Hof des Sultans unterstützt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann die figurative Malerei an Wertschätzung; jedoch ohne die Nackte. Nach der Gründung der Republik wurde die Moderne ein kulturelles Programm und die Kunst wurde bis in die 1980er Jahre durch den Staat subventioniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Türkei von der Außenwelt reichlich isoliert, ebenso auch die Kunst. Im Allgemeinen waren Informel, Tachismus, Gattungen der Abstraktion und der Soziale Realismus die bevorzugten Kunstrichtungen. Man kann den folgenden Schluß ziehen: erstens fehlen bedeutende avantgardistische oder gesellschaftskritische Strömungen wie Kubismus, Dada, Surrealismus, und es existierte kein Konflikt mit dem Staat und der Elite. Zweitens war die visuelle Kunst nicht so ansehnlich und wirkungsvoll wie die verbale Kunst, da während der Moderne zahlreiche Schriftsteller und Dichter, verurteilt und verhaftet, als Volkshelden gefeiert wurden.

Während der 1960er und 1970er Jahre wurden internationale Ausstellungen nur von offiziellen staatlichen wie städtischen Institutionen veranstaltet. Während des kalten Krieges haben ausländische Kulturinstitutionen wie British Council, Goethe Institut oder die italienischen und französischen Kulturinstitute gelegentlich Ausstellungen verwirklicht, um ihre Kulturpolitik gegenüber den sogenannten Schwellenländern oder Ländern der Dritten Welt zu manifestieren. Der programmierten Kulturausfuhr fehlte der Zeitgeist und das Aktuelle; damit konnten die Künstler und das Publikum der 1960er und 1970er Jahre den avantgardischen Bewegungen nicht begegnen.

In der Mitte der 1980er Jahre wurde dieser Zusammenhang allmählich verändert, verbunden mit den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in eine liberale und demokratische Richtung. Die Kunstszene, befreit von der erstickenden staatlichen Subvention, kam voran, und die Künstler/innen stellten sich vor und vermittelten ihr Werk dem Publikum. Mit dem Auftrieb der individuellen Befreiung und den Kommunikationsmöglichkeiten erweiterte sich die Thematik und Formensprache der Künstler/innen in eine komplexe Reflexion, in die Diversität und sogar in die Ebene des Tabus. Viele Künstler/innen der 1980er und 1990er Jahre befragten das Kunstwerk und das Kunstsystems äußerst kritisch, selbst wenn das politische Klima unterdrückend, sogar vernichtend war. Die militärische Intervention traf und lähmte die Intellektuellen des Landes. Die Gegensätze zwischen liberalen und sozialistischen Tendenzen und den Unruhen der 1960er und 1970er Jahre haben die Kunst zweier Künstlergenerationen bestimmt. Eine Gruppe von Künstlern Şükrü Aysan, Serhat Kiraz, Ahmet Öktem, Avni Yamaner waren Bahnbrecher und gründeten 1977 die Definition der Kunst Gruppe (STT-Sanat Tanımı Topluluğu) mit der Aussage, daß die Position und die Bedeutung der Kunst für eine soziale Vermittlung wichtig sind; eine Aussage, die bis jetzt seine Wirkung hat. Bewegungen wie Arte Povera, Neuer Realismus, Konzeptkunst und Minimalismus, die mehr oder weniger in einem ähnlichen geographischen und kulturellen Bereich des Mittelmeers erblühte, schien reiche und umfangreiche Möglichkeiten für diese Künstler zu präsentieren. Dabei folgte die Mehrheit der türkischen Künstler/innen dem sicheren Weg der Moderne, praktizierte Kunst um der Kunst willen, schuf abstrakte Malerei, bezog sich auf osmanische Kalligraphie und dekorative Kunst als Symbole und Formen der Tradition. Die sozialistischen Künstler/innen dagegen verwendeten die menschliche Figur als Signum politischen Protestes und bereicherten ihre Malerei mit folkloristischen Elementen und Erzählungen in der akademischen, realistischen oder expressionistischen Figuration. Die Sammlungen, die jetzt in zwei oder drei Istanbuler Privatmuseen zu sehen sind, repräsentieren hauptsächlich dieses Bilderbe – weitaus eher als die Konzeptkunst und Installationen der 1980er Jahre.

In den 1990er Jahren war die westliche Kunstszene endlich auch bereit, den anderen Modernismus der nichtwestlichen Länder anzuerkennen; dabei stand die Türkei in der ersten Reihe der Entdeckung wegen der Kunstproduktion der 1980er Jahre. Besonders seit 1986 hat die Istanbuler Biennale den Horizont für die Künstler/Innen weit geöffnet. Die Biennale war die erste Gelegenheit, prominente Kurator/innen und Kritiker/innen zu einem Dialog einzuladen. Für die Türkei, für die Länder des Ostmittelmeerraumes und für die westliche Kunstszene waren dieser Kontakt und die umfassenden Dialoge wesentlich, um das Geheimnis der Anderen zu erkennen.  Auf der Ebene der Praxis ist diese Beziehung gut gelungen, sodass zahlreiche Kunstkritiker/innen, Journalist/innen und Kurator/innen die Kunstszene in Istanbul erforscht haben und ein ausgeglichener Kulturaustausch möglich war.

Ab 2000 mit dem leicht verzögerten Auftauchen der Globalisierung erlebte die Kunstszene in Istanbul infolge des wachsenden Interesses an einer nicht-westlichen Kunst eine enorme Expansion, die überwiegend unterstützt wurde von den Europäischen Kulturfonds, Stiftungen und Kunstmuseen. Dieser Austausch war deutlicher in den europäischen Ländern mit großen türkischen Gemeinden zu beobachten wie Deutschland, Frankreich, Holland und Belgien. Die Entfaltung des lokalen Kunstmarktes, private Investitionen in Kunstzentren und Kunstwerke sowie der Aufbau und die Präsentation von Privatsammlungen waren die weiteren Merkmale dieses Kunstbooms.  Für den Umfang des Jahresumsatzes durch Kunst gibt  es nur unzuverlässige Statistiken: den jährlichen Umsatz durch den Verkauf von Malerei schätzt man für das Jahr 2011 auf 300 Millionen US-Dollar; das Einkommen der Galerien und des Auktionsmarktes wurde in 2001 auf 5 Millionen US-Dollar, für 2011 auf 105 Millionen US-Dollar und für 2013  auf 300 Millionen US-Dollar geschätzt. Der gesamte Kulturexport (Konzerte, TV-Serien, Publikationen und  Copyrights) der Türkei in 2011 belief sich auf 1.8 Milliarden US-Dollar, der Kulturimporte auf 1,5 Milliarden US-Dollar. Nach dem Kulturwirtschaftsbericht der UN erscheint die Türkei nach China und Indien mit 14,98 % Wachstum an der dritten Stelle (2)

Im Rahmen der EU-Integrationsprozesses wurde Istanbul im Jahr 2010 zur Europäischen Kulturhauptstadt. Mit diesem Status waren Forderungen der Europäischen Union verbunden, eine nachhaltige Kulturindustrie in der Stadt aufzubauen. Der Haushaltsplan für Kultur sollte ausgewogen sein, die Nachhaltigkeit von Projekten gesichert sein. Offiziellen Kultur-Arbeitern sollte eine ausreichende Möglichkeit zur Ausbildung geboten, die Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen gefördert werden. Ziel war außerdem, den interkulturellen Dialog mit der EU und den Nachbarländern aufzubauen

Im Zentrum der geförderten Infrastruktur sollten das kreative Individuum und die Kulturproduzent/innen stehen.

Im Rahmen dieser Maßgaben wurden während der Zeitspanne 2007-2010 und in Vorbereitung auf das Kulturhauptstadtjahr über 600 Projekte mit internationalen Partnern  realisiert. Zeitgenössische Kunst Direktorate unter meiner Führung veranstaltete über 40 Ausstellungen mit lokalen und internationalen Künstlerinnen und Kuratoren am Rande liegenden Stadtteilen in Zusammenarbeit mit den Gemeinden.(3) Diese Aufbau- und Zusammenarbeit, die eigentlich zwischen der erlahmten offiziellen Kulturpolitik, der heterogenen Konsumgesellschaft und der intellektuellen kreativen Schicht eine Brücke herstellte, wurde leider nicht fortgesetzt (4)

Gegenwärtig ist die Kulturpolitik nominal und politisch rechts-konservativ orientiert. Es gibt eine starke, politisch ausgerichtete staatliche Subvention für Film, Theater, Musik, aber keine Subvention für bildende Kunst. Investitionen privater Geldgeber beruhen auf rein wirtschaftlichen Interessen und verursachen Kultur-Monopole. Die Ausbildung auf dem Feld der Kunst und Kultur an den Universitäten ist mangelhaft, da ein internationaler Austausch und Partnerschaft zu wenig gesucht werden. Kunst-und Kulturprojekte in Zusammenarbeit mit EU-Institutionen und mit Mitteln aus EU-Fonds sind immer schwerer zu realisieren und zu erreichen.

Man kann diese Entwicklung in der Infrastruktur der Kunst- und Kulturszene in Istanbul deutlich wahrnehmen. Es gibt über 20 Kunst und Kulturzentren in verschiedenen Stadtteilen Istanbuls, die entweder von der Partei AKP oder der CHP verwaltet werden. Die, den politischen Orientierungen geschuldete Ausrichtung der Programme sind deutlich erkennbar. Einen nennenswerten Anteil an der lokalen zeitgenössischen Kunstszene haben aber eher die privat geführten Galerien, private Kunst- und Kulturzentren sowie die von der IKSV-Privatstiftung ausgerichteten Istanbul Biennale. Überdies finden populäre kommerzielle Kulturveranstaltungen in Einkaufszentren statt. Der Kunstmarkt ist in zwei Kunstmessen (Artinternational Istanbul und Contemporary Istanbul) , die noch nicht die internationale Aufmerksamkeit erreicht haben, repräsentiert.

Zeitgenössische Kunst ist in vier Stadtteilen – Şişli, Beşiktaş, Beyoğlu, Kadıköy – und dort in Nişantaş, Beşiktaş, Beyoğlu, Tophane und Karaköy etablierten Privatgalerien vertreten. Jedoch haben diese Privatgalerien eine fortdauernde Gentrifizierung der Stadtteile verursacht und mußten dann selbst von Straße zur Straße umziehen.

Es gibt Mißverhältnisse: Trotz der nunmehr 40jährigen Post-Moderne und kritischen Ästhetik  gilt zeitgenössische Kunst noch als elitär und hat keine große Sichtbarkeit und Bedeutung in der Türkei, die weiterhin von politischen und sozialen Umbrüchen wie Unruhen geprägt ist. Denn ihre Werke sind hauptsächlich in Istanbul in vier Stadtteilen zu sehen und erreichen über Istanbul hinaus ihre Rezipienten nur durch die drei Biennalen in Çanakkale (ab 2007), Sinopale (ab 2006) und Mardin (ab 2011). Wenn man bedenkt, daß die Besucherzahlen der Istanbul-Biennale in den letzten 10 Jahren nicht über 300.000 gestiegen sind (und darunter sind viele internationale Gäste), läßt sich angesichts der Bewohnerzahl von Istanbul auch hier von einer relativ geringen Wahrnehmung und damit geringen Rückhalt in der Stadt sprechen. Ein wichtiger Nachteil ist das Fehlen öffentlicher Finanzen; somit wird das Kulturmonopol dem Privatsektor überantwortet. Diese privaten Investitionen gehen auf eine Sammlungstätigkeit zurück, die seit den 1980er Jahren von etwa einem Dutzend solventer Familien betrieben wird. Nur einige dieser Sammlungen sind seit 2000 mit zeitgenössischen Werken ergänzt. Internationale Kunst wird erst seit 2000 gesammelt. Aktuell lassen sich folgende private Investitionen in Kunstinstitutionen aufführen: Das Museum Istanbul Modern ist eine Privatsammlung mit überwiegend moderner Malerei und wenigen zeitgenössischen Kunstwerken, gegründet von der Familie Eczacıbaşı im Jahr 2003 in einem Lager am Istanbuler Galata-Hafen. Hier werden Wechselausstellungen von verschiedenen Unternehmen gesponsert. Wegen der Privatisierung dieses Gelände als „Galata Port“ wird dieses Museum vielleicht in Zukunft versetzt werden. ARTER Space for Art ist eine Initiative der Vehbi Koç Foundation (VKF), die seit 2010 existiert. ARTER präsentiert zeitgenössische lokale und internationale Kunst. Programme werden mit dem Ziel der Förderung der Produktion zeitgenössischer Kunstwerke national und international angelegt und bieten eine Plattform für die Sichtbarkeit künstlerischer Praktiken. Die VKF baut ein neues Museum in Istanbul-Dolapdere.

SALT Beyoğlu hat kürzlich aus nicht deutlich erklärten Gründen geschlossen. (5) Das private Kulturzentrum SALT Galata in der ehemaligen Zentrale der Osmanischen Bank aus dem 19. Jahrhundert (Architektur:  Alexandre Vallaury) beherbergt eine spezialisierte, öffentliche Bibliothek und ein Archiv, hat eine Ausstellungs- und Konferenzhalle sowie das Osmanische-Bank-Museum. PROJE4L wurde von den Sammlern Sevda und Can Elgiz unter dem Namen Istanbul Museum of Contemporary Art 2001 in Levent gegründet, später jedoch in ein dynamisches Geschäftsviertel von Istanbul in Maslak versetzt. Maslak ist als „Mashattan“ bekannt und ein Wolkenkratzer-Bezirk nordwestlich von İstanbul. Bald schon wird diese Gegend ein Zentrum der freien Kunstszene sein, da viele Geschäftsleute sich als Kunstmäzene vorstellen wollen.

Unter diesen Umständen läßt sich fragen: Was macht Istanbul so anziehend? Als freiberufliche Kuratorin möchte ich antworten, daß die Produktion und Performanz der Künstler/innen, der kreativen Individuen, der unabhängigen Kulturinitiativen und die nicht profitorientierten Kulturveranstaltungen dieser Stadt neben ihrem historischen ein zeitgenössisches Gesicht gegeben haben. Leider ist nicht die gesamte Vielfalt der Kunstproduktion seit den 1980er Jahren in Istanbul präsent und in den vorhandenen privaten Sammlungsmuseen zugänglich; jedoch wissen wir, daß diese Produktion mit ihren drängenden Konzepten, ihrem Humor und ihrer Kritik, ihren Gegenstandpunkten und dem beeindruckenden visuellen Material ihrer Entdeckung harrt.

Die Weltpolitik der EU und USA, die die Welt in zwei Religionen teilt, und die Wirtschaft, die die Welt als globale Börse formuliert, zwingt heute die Völker, sich den katastrophalen Entwicklungen anzupassen. Gerade in der Türkei und in den sie umgebenden Ländern haben viele Künstler/innen noch den Mut, sich durch ihre provokanten Werke in Opposition gegen die in der Region herrschende Kriegspolitik, den Fundamentalismus und die diskriminierenden Maßnahmen der nicht-demokratischen Regierungen zu stellen. In den Ländern wie der Türkei versuchen Künstler/innen Wege zu finden, sich von den Einflüssen der Tradition und des Fundamentalismus zu loszusagen. Paradox ist dabei, daß die Tradition einerseits ein kulturell und visuell fruchtbares Inspirationsfeld bildet, andererseits aber auch eine Beschränkung darstellt. Es ist ein dunkles aber magisches Loch, indem die Künstler/innen ihre Inspiration und ihr Wagnis suchen und finden. In der Zeit der Postmoderne waren Künstler/innen ganz besonders motiviert, in eine Auseinandersetzung mit der Tradition, mit eklektischen Zitaten und individuellen Chiffren zu treten.

Eines ist klar, nämlich daß die Künstlerinnen seit Mitte der 1980er Jahre eine besondere Rolle spielen: sie reflektieren das „aufgeklärte Bild“ der Frau in der Türkei (und auch im Iran, Ägypten, Lebanon) und positionieren sich gegenüber den Aussagen einer männlich geprägten Gesellschaft.

Wenn man diese Beobachtungen und die Beispiele berücksichtigt, läßt sich schließen, daß die Kunst in der Türkei dem Publikum ein geistiges Reaktionsvermögen vermittelt, um der aktuellen drückenden Politik und den Zwängen der Konsumwelt zu begegnen. Wenn noch durch Metapher und indirekte Bezüge, so zeigt sie Wege und Strategien, den fundamentalistischen und polarisierenden Morast zu umgehen, und auch die Ideologien der Konsum- und Medienwelt scharf entgegenzutreten. Diese Kunst stößt in die Kluft zwischen den polarisierenden Diskursen und erzeugt Störungen im Netz der Ideologien. Dafür könnte ich zahlreiche Beispiele der seit den 1980er Jahren geschaffenen Werke geben, möchte jedoch hier nur einige aktuelle Arbeiten anführen.

Hakan Kırdar’s Anıt Ormanı („Denkmal Wald“, Abb….), ausgestellt 2016 in der Sanatorium Galerie, Istanbul ist eine Installation, die die politische und ideologische Geschichte des Messegeländes in Izmir dekonstruiert. Das ehemalige Terrain der Messe gehörte der Armenischen Gemeinde und wurde als „Haynots“ bezeichnet. In 1922 brach während der Befreiungskriege wegen ethnische Säuberung ein politisch ausgelöste Brand in Izmir aus, und die armenischen Einwohner wie auch Angehörige anderer nicht-muslimischer Gemeinden mußten auswandern. Das Gelände wurde enteignet und im Rahmen der Türkischen Republik zu einem großen Modernisierungsprojekt als Kulturpark und Messe wiederaufgebaut. Kırdar nähert sich dem Thema mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und rekonstruiert ideologische, soziologische und kulturelle Elemente dieser Geschichte mit Archivalien, Zeichnungen, Fotografien und Skulpturen. Die Ausstellung ist als imaginäres Museum konzipiert, formuliert dabei eine kritische Perspektive auf das Kemalistische Modernisierungsprojekt, das die Vernichtung der Demographie, des individuellen Lebens und der Stadtstruktur in Kauf nahm.

Serhat Kiraz’s Tarih-i Tekerrür („Geschichte wiederholt sich“, Abb. ), gezeigt 2016 in Kuad Galerie, Istanbul  besteht aus einer Türkei-Karte aus acht Teilen, die 1930 im Maßstab 1:25.000 produziert wurde und mit dem Wort „Verkauft“ gestempelt ist. Die acht Teile sind gerahmt und hängen an der Wand. Eine andere im Buchformat gedruckte Landkarte aus dem 19. Jahrhundert (Atlas General) ist in einer Museumsvitrine unter einer Lupe ausgestellt und begleitet die Karteninstallation an der Wand. Seite für Seite wird die Atlas General Karte auch als Video-Loop gezeigt. Kiraz’ Installation widmet sich der Verschiebung der historischen Grenzen vor und nach dem Ersten Weltkrieg, als aus dem Osmanischen Reich die viel kleinere Türkische Republik hervorging. Durch die Aufführung der historischen Karten will der Künstler an der Relativität  der Grenzen, an der vorsätzlichen Wiederbelebung der  Osmanischer Reich aufmerksam machen und gibt Hinweis darauf, daß der Kampf für die Re-organisation der Grenzen geführt wird.

In Duble Hikaye („Doppelte Geschichte“, Abb. ) entwickelt Gülçin Aksoy eine Bildsprache, um ideologische Konstrukte, Machtstrukturen und Mechanismen, die im alltäglichen und institutionellen Leben verankert sind,  zu offenbaren. In ihrer umfangreichen Einzelausstellung in Depo, Istanbul von 2015 hat sie mit Videos, Fotografien, Teppichen, Gemälden und Installationen eine autobiographische Untersuchung vorgelegt, die gegen den Verlust des öffentlichen Gedächtnisses arbeitet. Im Mittelpunk steht die durch den Putsch von 1980 verursachten Traumata ihrer Familie und die Veränderungen der Stadt Samsun, wo Aksoy geboren und aufgewachsen ist.

In diesen drei Werken ist zu erleben, daß innerhalb der aktuellen politischen Verwerfungen gerade die Kunsttheorie und die zeitgenössische Kunst einen geistigen und intellektuellen Widerstand bilden können. Während der Gezi-Aufstände in Taksim war zu beobachten, wie die Strategien der zeitgenössischen Kunst als Ausdruck der Rebellion verwendet wurde. Kritik von Kreativen ist eine Provokation gerade für jene Länder, die sich noch immer schwertun mit den Freiheiten fortschrittlicher Demokratie. Gerade jetzt, in der Zeit eines sich ausweitenden Fundamentalismus in der Türkei, ist diese dissidente Kreativität lebenswichtig, aber auch schwer verdaulich. Denn sie bietet für die Entstehung oder die Entwicklung der Demokratie zahlreiche unvorstellbare Wege und Stützpunkte. Die Kunst in der Türkei läßt sich nicht nur mit Vernunft beurteilen; es gibt viele Zweideutigkeiten. Wenn man annimmt, daß die Menschen in der Türkei trotz Laizismus und Demokratie eine starke religiöse Perspektive haben und diese durch weltpolitische und wirtschaftliche Konfigurationen noch dominanter wird, dann ist die Sache kompliziert. Der islamische Fundamentalismus tut sich schwer, den Menschen die Freiheit zuzugestehen, die die Realität kritisch zu befragen; vielmehr wird viel zu häufig mit Praktiken der Desinformation, der Verheimlichung und des Verbots gearbeitet. Die Spannung zwischen den sozio-politischen kulturellen  neuen Realitäten, nämlich das Fehlen der modernistisch-nationalen Homogenität, die Eindringlichkeit der ethnischen und religiösen Verschiedenheit  und den widerständigen Kräften von jeglichen Seiten  verursacht den sogenannten sozialen Bewusstseinsriss.

Durch die Moderne und Post-moderne wurde den Menschen der Boden unter den Füssen weggerissen. Die verlorene Vision wurde durch eine politisch manipulierte Form ersetzt, die die Bevölkerung in Türken, Kurden, Sunniten, Alawiten,  und in fundamental religiöse, konservative, laizistische und atheistische Gruppen fragmentiert.  Es ist ein Daseins- und Identitäts-Chaos und man weißt nicht ob dieses Chaos durch eine Ordnung ersetzt werden kann.

Innerhalb dieses Tumultes und Widerstandes schlägt die Kunst vor, den Wert des Lebens neu zu berechnen und es durch eine Welt der Objekte neu zu formulieren. Jegliche Wahrnehmungsprozesse, besonders im Hinblick auf die Kunst, müssen durch diesen Riß gefiltert werden; jedoch aber gibt es neuere Vorstellungen, über die diskutiert werden muß.

Die Türkei hat eine dicht polarisierende politisch-soziale Agenda.

Nach seiner Wirtschaftskrise im Jahr 2001 erlebte das Land eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von sechs Prozent. Die Aufbruchsstimmung und der wirtschaftliche Optimismus wurden durch politische Reformen als auch durch die positiven Schritte zur Lösung der Kurdenfrage und die Demokratisierungsbemühungen verursacht und eröffneten den Weg zur EU-Mitgliedschaft. Die Strategie „Null Probleme mit den Nachbarländern“ bot auch außenpolitisch eine positive Aussicht. Ab 2012 jedoch wurden diese positiven Entwicklungen in der Wirtschaft, die Innen- und Außenpolitik eine Erschütterung und immer größere Stürme. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate liegt nunmehr bei drei Prozent, die Arbeitslosigkeit ist zweistellig, die Inflation steigt. (6)

Der sogenannte Friedensprozeß mit den Kurden kam im Juli 2015 zu einem Ende. Terroranschläge des Islamischen Staats (IS) wurden durch radikale Veränderungen in der Außenpolitik begleitet.

Das „Wunder“ scheint die ganze Zeit eine Illusion gewesen zu sein, und Istanbul ist trotz seiner noch resistierenden und aktiven zeitgenössischen Kunstszene kein „hot spot“ mehr.

 


1. https://www.youtube.com/watch?v=XEzqu_z9fRo
2. www.turkstat.gov.tr
3. www.supremepolicy.blogspot.com
4. http://ec.europa.eu/programmes/creative-europe/actions/documents/ecoc/ecoc-2010-report_en.pdf
5. http://artforum.com/news/id=57707
6. http://www.dw.com/de/türkische-wirtschaft-ausgebremst/a-18229387